Im Gegensatz zu unserer Untersuchung von 8kun, Odysee und BitChute haben wir bei Telegram einen Fokus auf die Diskurse und den Sprachgebrauch der sogenannten Querdenker gelegt. Der Messengerdienst Telegram gilt ebenso wie die Querdenken-Bewegung als niedrigschwelliger Einstieg in antisemitische Verschwörungsideologien. So haben wir insbesondere nach Hinweisen gesucht, wie in diesen Chats eine Radikalisierung in ein antisemitisches Weltbild passieren kann beziehungsweise rhetorisch vorbereitet wird und welche sprachlichen Mittel und Diskurse als Früherkennungs-Faktoren fungieren könnten. 

Historische Bezüge

Die Chatverläufe zeigten auffällig gehäufte Bezüge auf historische Themen und ein in sich hinlänglich konsistentes Geschichtsbild. Oft vereinfachte, verfälschte oder misslich interpretierte historische Ereignisse und Entwicklungen werden hierbei systematisch als Schablone zur Interpretation der Gegenwart genutzt.

Die Tendenz der Vereinfachung zeigt sich dabei auch darin, dass insbesondere äußerst dramatische bzw. kulturell stark verarbeitete Ereignisse oder Personen zum Vorschein kommen (John f. Kennedy, Adolf Hitler, Faschismus, Stalinismus, Genozide, Sklaverei). Diese Ereignisse und Personen werden mit deutlicher Betonung nahezu ausnahmslos in drei Kategorien eingeteilt: gut, böse und (als gut oder böse) „missverstanden“.

Sowohl die durch das Geschichtsbild erwirkte Dringlichkeit als auch dessen radikale Vereinfachung in den beschriebenen Ebenen können als Signale und Marker von Radikalisierung verstanden werden. Die Überbetonung der Gegenwart als historischer Wendepunkt birgt das Potenzial, Handlungsdruck und eine weitere Emotionalisierung zu erzeugen.

Vergangenheit als Geschichte der Unterdrückung

Vergangenheit wird als Klassen- bzw. Unterdrückungs- und Befreiungskampf interpretiert. Die eigene Verortung in dieser historischen Dynamik, welche auch die Gruppenidentität mitformt, liegt auf der Seite der Unterdrückten.

Politischer und philosophischer Vergangenheitsbezug / Antimodernismus

Auch im philosophischen sowie politischen Diskurs der Messenger-Nachrichten zeigt sich ein impliziter Geschichtsbezug, indem die Ideengeschichte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als intellektuelle Grundlage dient. Dazu gehören Argumente des Darwinismus, Nationalismus, Materialismus, nationale Befreiungs- und Freiheitsphilosophien, Klassischer Liberalismus, Naturphilosophie, Faschismus sowie eine pervertierte Form des Antifaschismus. Fragen des Strukturalismus, Poststrukturalismus, Postkoloniale Theorien, etc. – also Theorien, welche in den letzten 70 Jahren im akademischen Diskurs standen – werden nicht, wie erwartet, als Feindbilder gezeichnet, sondern finden weder explizit noch implizit Erwähnung.

Das Jetzt als Wendepunkt, Zukunft als Utopie oder Dystopie

Aus dem Motivmaterial der Populärgeschichte wird ein auf drei Zeiteinheiten reduziertes, lineares Geschichtsbild  geformt. Die Gegenwart wird als historischer Wendepunkt verstanden, wodurch eine Dringlichkeit zur Handlung hergestellt wird, da die Zukunft nahezu ausschließlich in den Extremen von Utopie oder Dystopie imaginiert wird. Dessen Charakter wird, so die geteilte Meinung, im eng verstandenen Jetzt entschieden.

Geschichtsklitterung

Wo die historischen Bezüge nicht in das Motiv der eigenen Opferschaft passen, wird strategische Geschichtsklitterung, also die gezielte Fehlinterpretation oder Verfälschung historischer Fakten, betrieben. 

Sprachliche Manifestationen des Geschichtsbilds

Sprachlich zeigen sich erstens deutliche Referenzen auf einen historischen Bezug, der insbesondere mit der Sprache des Dritten Reichs überlappt (Analyse folgt). Zweitens wird der Wendepunkt-Charakter der Gegenwart durch sprachliche Instrumente betont; insbesondere der wiederholte Versuch, eine neue Zeitrechnung einzuführen, ist auffällig.


Moralisierung

Weder die Abwesenheit noch eine gezielte Subversion des gesellschaftlichen moralischen Konsenses konnten festgestellt werden. Vielmehr zeigten sich eine auffällige Betonung und ein Stützen auf breit konsensfähige Werte, während die Faktenlage als Grundlage der Anwendung dieser Werte allerdings verkehrt wird. Insbesondere die moralische Reduktion und Überpräsenz kann als Signal der Radikalisierung verstanden werden.

Moralisiertes Weltbild

Der moralische Diskurs der Gruppe ist in erster Linie durch seine Omnipräsenz geprägt; nahezu jede Handlung, jede Person und jede historische oder kontemporäre Entwicklung wird durch eine moralische Schablone beurteilt.

Binäre Moral

Inhaltlich ist insbesondere eine deutlich binäre Struktur zwischen ‘gut’ und ‘böse’ auszumachen, wobei die Seite des „Guten“ die Selbstwahrnehmung der Gruppe definiert.

Schutz der Schwachen, Opferschaft oder Aufopferung

Das virulenteste moralische Narrativ ist der Schutz von als schwach interpretierten Gruppen, beispielsweise Schwangeren, Kindern, Kranken, Armen und auch Tiere. Die Identität der Gruppe ist geprägt durch die Selbstbeschreibung als Schwache oder Opfer einerseits oder als aufopferungsvolle Beschützer vermeintlicher Opfer andererseits.


Verschwörungserzählungen

Auf Basis moralischer Binarität wird ein Weltbild entworfen, in welchem innere Widersprüche der nuancenlosen Zuordnung des „Guten“ zur Eigengruppe entweder mit Geschichtsklitterung (z.B. Holocaustleugnung) oder mit Verschwörungserzählungen begegnet wird. Das Grundmotiv der Verschwörung ist eine Vorstellung der absichtlichen oder beabsichtigten Unterdrückung der Eigengruppe durch die Fremdgruppe, welche als „Elite“ gebrandmarkt wird.

Es zeigt sich ein Cluster materialistischer Geschichtslogik mit der entsprechenden Terminologie und philosophischen Grundierung (Kapitalismuskritik, Klassenkampf, Widerstand, Unterdrückung).

Binäre Antimodernismus & Körperlichkeit

Gehäufte Referenzen auf eine bedrohte Körperlichkeit zeigen sich systematisch in Zusammenhang mit antimodernistischen Motiven. Die Vorstellung, dass die Körper der Eigengruppe durch Technik und anorganisches Material der Fremdgruppe kontrolliert oder geschädigt werden sollen, ist virulent (Gift, Mikrochips, Masken, Polizeiknüppel). Der Schutz und die Förderung des körperlichen Wohlbefindens spielt eine zentrale Rolle; so werden oft die Anschaffung von Essensrationen, Theorien über vergiftetes Essen oder Wasser und Gewässer, gefährliche Strahlungen durch Flugzeuge, Strom- oder Sendemasten sowie Ratschläge für körperliche Gesundheit diskutiert. Die deutliche Verteilung der Motivik des Anorganischen in der Fremdgruppe und des Organischen bzw. Lebendigen in der Eigengruppe stützt und bereitet die Entmenschlichung des Gegenübers als Rechtfertigung für eigene Gewalt vor.

Gruppenidentität durch Externalisierung

Bemerkenswert ist, dass die Fremdgruppe näher definiert scheint und mehr diskutiert wird als die Eigengruppe. So wirkt es mitunter, dass die imaginierten Verschwörer näher an der Lebenswirklichkeit der Schreibenden zu sein scheinen als die eigene Bewegung. Das zeigt sich auch sprachlich: Mitglieder der empfundenen Verschwörer sind oft lediglich mit Vornamen oder sogar Spitznamen genannt, während Mitglieder der eigenen Gruppe regelmäßig mit vollem Namen und einer Berufsbezeichnung oder ihrer Rolle in der „Bewegung“ vorgestellt werden. Die Konzentration auf die Fremdgruppe scheint dabei ein kraftvolles Instrument zum Zusammenhalt einer innerlich inkohärenten Gruppe.

Bildung einer Gegenverschwörung

Zur Verschwörungsstruktur der Querdenker gehört auch die Bildung einer tatsächlichen Verschwörung zur Abwehr der empfundenen Verschwörung anderer – eine Art Gegenverschwörung. Dazu gehören Pläne zur Unterwanderung, Strategien der gezielten, manipulativen Kommunikation und der „geheimen“ Organisation zu physischen Gruppierungen. Hierin liegt eine zentrale Funktion des Telegram-Kanals.


Friedfertigkeit

In einer scheinbar paradoxen Struktur offenbart sich insbesondere die Betonung der eigenen Friedfertigkeit als Signal von Radikalisierung und Gewaltbereitschaft.

Narrativ des gewaltbereiten Gegenübers

Die Betonung der eigenen Friedfertigkeit wird systematisch einer imaginierten Gewaltbereitschaft der Fremdgruppe gegenübergestellt. Dadurch erhöht sich die Emotionalität des Diskurses sowie der empfundene Handlungsdruck.

Narrativ der Reaktion

Die eigene behauptete initiale Friedfertigkeit gegenüber einer als aggressiv imaginierten Außengruppe dient als Rechtfertigung einer nun bestehenden Gewaltbereitschaft. So scheint das häufigste Motiv im Umfeld angedrohter Gewalt nicht etwa die vermeintliche Schuld der Fremdgruppe, sondern die eigene Friedfertigkeit.

 Zunehmende Sprache der Gewalt

Bezüglich des Friedfertigkeitsmotivs lässt sich eine Entwicklung feststellen. Während in einer früheren Phase des Untersuchungszeitraums vor allem die eigene moralische Überlegenheit gegenüber dem imaginiert gewaltbereiten Anderen betont wird, wird in späteren Phasen die eigene Gewaltbereitschaft als Reaktion auf das Scheitern der eigenen Friedfertigkeit begründet.


Wissen und intellektuelle Überlegenheit

Es besteht eine Häufung von Motiven des Wissens sowie von Narrativen der eigenen Wissens-Überlegenheit. Während die Quellenauswahl und -interpretation fern von wissenschaftlichen Ansprüchen bleiben, werden Argumente und Meinungen konsistent  mit Vokabeln der Wissenschaftlichkeit unterfüttert (Beweis, Schlussfolgerung, Recherche, Forschung, Studie, etc.).

Reichweite als Funktion des Chats

Eine Hauptfunktion des Messengers scheint dabei zu sein, eine alternative Plattform für den Kampf um Aufmerksamkeit zu bieten. Insbesondere wird versucht, eine Subversion der umkämpften öffentlichen Aufmerksamkeitsökonomie zu schaffen, indem ein abgeschlossener Paralleldiskurs zum Etablierten eröffnet wird.

Zensurannahme und Umkehrung

Die Notwendigkeit einer neuen Agora wird deutlich durch Hinweise auf ein Scheitern des gesellschaftlichen Diskurses. Aus Sicht der Schreibenden werden sie ignoriert, zensiert und verlacht. Der Paralleldiskurs versucht diese wahrgenommene Behandlung umzukehren. Mit deutlicher Betonung werden etablierte Meinungen der Gesellschaft verlacht, ihre Verbreitung in der Gruppe zensiert und Argumente oder Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit ignoriert.

Scheinbare Strategisierung

Die Selbstwahrnehmung als intellektuell überlegen und „besser-wissend“ wird oft implizit schlicht angenommen. Dadurch wird diese empfundene Tatsache seltener wiederholt als der Folgeschritt: Diskussionen über geeignete Strategien, das den anderen überlegene „Wissen“ möglichst geschickt zu kommunizieren, stehen im Vordergrund. Diese kaum fruchtenden strategischen Diskussionen bieten aber vor allem Gelegenheit, das Motiv der eigenen Überlegenheit zu perpetuieren.

Subversion eines tatsächlichen Wissensaustauschs

Ein Wissensaustausch wird auf Verweise auf externe Quellen reduziert, was einen Austausch über den Inhalt unterläuft, da dieser nun einen oder mehrere Klicks von dem Austauschforum entfernt liegt. Eine übereinstimmende Position wird schlicht vorausgesetzt und inhaltliche Diskussionen über die „Wissensbestände“, „Beweise“ oder Argumente finden kaum statt. Diskussionen und Auseinandersetzungen im Chat fokussieren hingegen vor allem Strategien darüber, wie das vermeintliche Wissen nach außen kommuniziert werden könnte.